Heutzutage erfreut sich die anarchistische Weltanschauung  scheinbar wachsender Beliebtheit: Wenn an den Börsen die Kacke am Dampfen ist, ist es die Anarchie der Märkte, wenn dein Zimmer nicht aufgeräumt ist, kommt die Mutter mit dem Anarchismus-Vorwurf und sobald mal wo eine Besetzung stattfindet, fällt das Gebäude unverzüglich dem Anarchismus anheim. Bei derlei Verwirrung scheinen ein paar klärende Worte notwendig.

Herrschaftslosigkeit als gemeinsames Ziel

Obwohl das Wort “Anarchie” oftmals synonym Verwendung für chaotische Zustände oder Unordnung findet, steht es seiner Definition nach für “Abwesenheit von Herrschaft”, also für die herrschaftslose Gesellschaft, in der die Freiheit des Individuums oberste Priorität hat. Das ist jetzt Etwas, was für KommunistInnen im Grunde ebenso gilt, denn schließlich eröffneten uns Marx und Engels im Manifest der Kommunistischen Partei die Aussicht, dass “an die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen […] eine Assoziation [tritt], worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.”

Eine Gesellschaft, in der Herrschaft von Menschen über Menschen genauso wenig notwendig ist wie die dazugehörigen Repressionsapparate in Form von Polizei, Staat und andere Formen autoritärer Praxis: sie ist für AnarchistInnen wie für KommunistInnen der Grund und Zweck ihres politischen Handelns.

Die Sache mit dem Staat

Der Punkt, der wohl oft als grundlegendste Unterscheidung zwischen AnhängerInnen des Anarchismus und des Marxismus festgemacht wird, ist die Frage danach, wie der beiderseits angestrebte Zustand denn herbei geführt werden kann. Verkürzen lässt es sich folgendermaßen: Die AnarchistInnen wollen den Staat lieber heute als morgen beseitigen, während die MarxistInnen dem eine unerlässliche Übergangsphase nach der sozialistischen Revolution auf dem Weg zum Kommunismus entgegenhalten. Die Form dieser Übergangsphase ist der sozialistische Staat der arbeitenden Klasse: der Sozialismus.

Der revolutionäre Staat

Diese Phase ist notwendig, weil nicht zu erwarten ist, dass anstelle des Staates – als Instrument der Unterdrückung einer Klasse durch eine andere – sofort und ohne Übergang eine tatsächlich freie Gesellschaftsordnung treten wird. Wie hätte das revolutionäre Russland dem von allen Seiten nach der Oktoberrevolution gegen es entfachten Krieg standhalten können ohne staatliche und zentrale Organisation? Lose Verbände, wo bereits ohne jegliche Autorität und Leitung “Anarchie” herrscht, wären nicht in der Lage gewesen, dem Angriff kapitalistischer Staaten und der eigenen, mittlerweile im Staate entmachteten, Bourgeoisie entgegenzuhalten, geschweige denn dem Angriff Nazideutschlands wenige Jahre später. Oder wäre die kubanische Revolution denn noch siegreich, wenn sie keine staatliche Verwaltung zur Verteidigung und zum Ausbau des Sozialismus zur Verfügung hätte? Wohl kaum. Die Geschichte hat gezeigt, dass konterrevolutionäre Kräfte und imperialistische Mächte jede Gelegenheit nutzen werden, das vom revolutionären Umbruch erfasste Gebiet wieder zurück in den Schoß des Kapitalismus zu holen. Sie können gar nicht anders. Und gerade diese Situation macht die Verteidigung der Revolution notwendig, sie macht den sozialistischen Staat notwendig.

Die revolutionäre Ungeduld

Dennoch berührt die Frage nach der Übergangsform zur angestrebten Ordnung das elementare Motiv anarchistischen Handelns noch immer nicht ganz. Dieses Motiv ist – nach Wolfgang Harich – die revolutionäre Ungeduld. Denn mit der Frage nach dem revolutionären Staat der arbeitenden Klasse sind schon vor der Revolution viele Fragestellungen verbunden, die es zu beantworten gilt. Es werden hier fast “sämtliche Probleme des Klassenkampfes, angefangen bei den einfachsten Regeln gewerkschaftlichen und politischen Zusammenschlusses der Arbeiter über die verschiedensten Aspekte des taktischen Vorgehens und der propagandistischen Tätigkeit im kapitalistischen Milieu bis hin zu der Aufgabe, der bereits befreiten Gesellschaft eine ihr angemessene Ordnung der Produktion, der Verteilung und des menschlichen Zusammenlebens”[1] berührt.

Harich sieht das Motiv darin, “die unglaubwürdig gewordene christliche Jenseitsvertröstung zu kompensieren durch einen nicht weniger irrationalen Glaubensinhalt, der à la Jean Grave [anarchistischer Theoretiker, Anm.] aus der Kürze der menschlichen Lebensdauer die Notwendigkeit sofortiger und totaler Revolution folgert, ohne nach deren realen Bedingungen zu fragen[…]“[2]. Ähnlich wie Jesus Wasser in Wein verwandle, soll “im Handumdrehen Kapitalismus in Kommunismus, autoritärer Staatszwang in schrankenlose Freiheit umgezaubert [werden] – zu schön, um wahr zu sein.”[3]

Strategie, Taktik und Perspektive

Das führt dazu, dass der Anarchismus immer den zweiten, dritten und schließlich letzten Schritt gehen will, ohne zuvor den ersten zu setzen. Gewissermaßen sägt er bereits an Ästen, auf denen noch gar nicht gesessen werden kann, und meint dabei die höchsten Baumkronen zu erklimmen. Die bitter notwendige politische Aufbau- und Organisationsarbeit wird verneint, das Lästige und Beschwerliche wird übersprungen und macht einer Scheinerfüllung in gesellschaftlich isolierten Sphären Platz. Dies ist gerade in Zeiten, wo das Kapital allumfassend in der Offensive ist und fortschrittliche Kräfte kaum dazu imstande sind, dagegen zu halten, ein fataler Fehler.

Und alle Versuche durch diverse Aktionen das Kapital zu verunsichern oder mitten im Kapitalismus Seifenblasen mit kollektivistischer Produktion und Verteilung aufzublasen haben in einer strategischen Perspektive ebenso wenig mit Sozialismus zu tun wie die Missachtung des zeremoniellen Brimboriums bürgerlicher Gerichte. Unter Ausklammerung der politischen und gesellschaftlichen Machtfrage sollen im Vorgriff auf die Zukunft bereits Vorhaben realisiert werden. Im Vorgriff auf eine Zukunft allerdings, die nur durch den politischen Kampf erobert werden kann.

Diesem Wunschdenken, dieser Ungeduld und diesen irrationalen Elementen kann man abschließend Marx Erkenntnis entgegenhalten: “Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktionskräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue, höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind.”[4]

Lesetipps:

  • Karl Marx: Die deutsche Ideologie

 

  • Karl Marx: Das Elend der Philosophie

 

  • W.I. Lenin: Staat und Revolution

 

  • Wolfgang Harich: Zur Kritik der revolutionären Ungeduld

 

[1] Harich: S.33
[2] Harich: S. 42
[3] Ebenda
[4] Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie. Vorwort.

Vorabveröffentlichung aus vorneweg. Zeitung für Veränderung