demo_indienDer Moment in Deinem Leben, der alles verändert. Wie sehr ein ungeplantes Ereignis das eigene Leben und das anderer verändern kann, sehen wir an den Geschehnissen der letzten Zeit in Indien.

Mitte Dezember war die 23-jährige Medizinstudentin auf dem Weg nach Hause und stieg mit ihrem Freund in einen kleinen, angeblich „privaten“ Bus. Innerhalb kürzester Zeit wurde sie von den sechs anwesenden Männern brutal mit einer Eisenstange geschlagen  und vergewaltigt; ihr Freund wurde ebenfalls außer Gefecht gesetzt. Anschließend wurden beide aus dem fahrenden Bus geworfen.

Lebensgefährlich verletzt und nackt am Straßenrand zurückgelassen, wurde sie von den Passanten zuerst liegen gelassen. Gelandet in einer Klinik in Singapur, kämpfte sie zahlreiche Tage um ihr junges Leben. In der Zwischenzeit machten sich vielerorts in Indien bereits Proteste breit.

Als das Opfer der Vergewaltigung am 28. Dezember ihren schweren Verletzungen unterlag, eskalierte die Situation in Indien. Das Protestzentrum war der Jantar Mantar, ein bedeutender Platz in Neu Delhi.

Die Menschen beteiligten sich massenhaft an den Protesten gegen die Täter – und gegen das indische Patriachat. Die hohe Zahl männlicher Protestierender ist erstaunlich und sehr erfreulich. Selbst nach der Anklage gegen die fünf Tatverdächtigen (der sechste ist minderjährig) hielten die Demonstrationen an. Teilnehmer aller Kasten, Berufsklassen und Altersgruppen.

Sie kämpfen gegen ein patriarchales Gesellschaftssystem, in dem Frauen noch immer als gefühllose Gegenstände gesehen werden, und für eine harte Bestrafung der Vergewaltiger.

Vergewaltigungen sind in Indien keine Seltenheit. Alleine in Neu Delhi sind jährlich etwa 150 gemeldet – die tatsächliche Zahl dürfte zumindest das Dreifache betragen. Selbst bei den Registrierten kommt es nur bei jedem zehnten Fall zu einer Verurteilung, größtenteils wegen der Trägheit von Behörden und Gerichtsapparat.

Ein weiteres Ereignis (8.1.2013) empört: Der in Indien populäre 71-jährige Guru Asharam „Bapu“ veröffentlichte ein Video, in dem er verlauten ließ, das Opfer trüge Mitschuld an ihrer Vergewaltigung. Sie hätte in Gottes Namen ihre „Brüder“ (ihre Peiniger) um Gnade anflehen müssen. Daraufhin entfachten die Proteste wieder. Wie Demonstranten richtig auf ihre Schilder schreiben: We don’t call rapists our brothers!

Erst die massenhaften Proteste haben die an der Tagesordnung stehende Gewalt an Frauen in Indien zum Thema bei den heimischen Medien gemacht. Für gewöhnlich bemüht man sich darum, Missstände in prowestlichen, marktwirtschaftlich orientierten Ländern zu verschweigen. Zuviel Kritik würde da offensichtlich nichts in Bild des „Allheilmittels“ Kapitalismus passen.

USA, EU und WTO übten in der Vergangenheit zwar viel Druck auf Indien aus, den Markt für genmanipuliertes Saatgut zu öffnen und den westlichen Großkonzernen optimale Bedingungen zu schaffen – wie die Lebensrealitäten der hunderten Millionen Frauen aussehen, interessiert die selbsternannte Menschenrechtspolizei aber offensichtlich nicht.

Auch in Österreich ist das Thema Vergewaltigung vor einiger Zeit durch einen sogenannten „spektakulären“ Fall in einer Wiener U-Bahn durch die Zeitungen gegangen. Das kann schnell von den strukturellen Problemen ablenken: Untersuchungen zufolge wird nur in jedem zehnten Fall Anzeige erstattet – aus Angst, dass einem nicht geglaubt wird, frau selbst zur Schuldigen gemacht wird oder weil der Täter (Ex-)Partner ist. Hinzu kommt, dass nicht einmal jede fünfte Anzeige auch zu einer Verurteilung führt. Die Geschichte mit dem auflauernden Vergewaltiger wird von den Medien zwar sensationsgeil als spektakuläre Schlagzeile verkauft, dass der traurige Regelfall von sexueller Gewalt allerdings in den eigenen vier Wänden passiert, wird nicht thematisiert.

Mehr öffentliche Überwachung und U-Bahn-Polizisten nützen rein gar nichts, wenn sich die Gewalt an Frauen – und das tut sie zum Großteil – im eigenen Umfeld abspielt. Auch drakonische Strafen werden nichts ändern, wenn die Opfer Angst haben, auszusagen.

Was es braucht, ist das Aufzeigen der Tatsache, dass sexuelle Gewalt in der Gesellschaft viel zu oft vorkommt; nicht nur, wenn mal wieder darüber berichtet wird. Und dass es in Indien wie in Österreich noch immer Leute (meist rechte und/oder religiöse Spinner) gibt, die Opfer zu Mittätern abstempeln wollen.